Als erstes fällt die Klarheit auf, mit der Jens Lingemann seine Situation beurteilt. Sein Denkvermögen, so viel steht fest, hat die Krankheit nicht beeinträchtigt. Auch Stimme und Redefluss merkt man zu keinem Zeitpunkt an, dass es sich hier um einen schwerkranken Mann handelt, dessen Kraft nicht mal mehr für die einfachsten körperlichen Aktivitäten reicht. „Nur an wenigen Tagen im Jahr wenn das Wetter optimal ist, schaffe ich es mit Hilfe des Rollators und mobilem Sauerstoffgerät 30 Meter weit. Dann mache ich schlapp und muss mich aufgrund schwerster Atemnot mehrere Minuten ausruhen.“ Solchen Sätzen ist jedoch kein Anflug von Selbstmitleid anzuhören.
„Selbstmitleid, das ist nicht mein Ding.“
Jens Lingemann (49) wurde im Jahr 2000 nach einem Pneumothorax (Lungenkollaps) und einigen Tagen Koma mit der Diagnose COPD konfrontiert. Wie so viele konnte er zunächst mit der gesellschaftlich weitgehend unbekannten Volkskrankheit nichts anfangen. Der Phase der ersten Verwirrung folgte schnell die ernüchternde Einsicht, dass es sich hier nicht um eine Krankheit handelt, von der er sich wieder erholen würde. Fortan würde er mit der Lungenerkrankung leben müssen, und das vielleicht nicht mehr allzu lange: 2 Jahre – so lautete eine erste Prognose.
Wo andere in eine tiefe Depression fallen würden, bat Lingemann seine Frau direkt zu Beginn des mehrwöchigen Krankenhaus Aufenthaltes, ihm Literatur über die Krankheit zu besorgen. Das hat Methode: Lingemann ist einer, der analytisch vorgeht und akribisch alle Informationen zusammenträgt. In den folgenden Tagen und Wochen liest er alles, was er in die Hände bekommt. Herauszufinden, was mit ihm los ist, zu wissen, was in ihm vor sich geht, das ändert zwar nichts an der Diagnose, aber es hilft ihm, die Krankheit zu verstehen, zu akzeptieren und zu lernen MIT ihr zu leben.
Selbsthilfegruppe „Lungenemphysem-COPD Deutschland“
Lingemann ist aber auch einer, der Konsequenzen aus seinen Analysen zieht. So auch im Jahr 2000. Auf der Suche nach einem Austausch mit anderen Betroffenen stellte sich jedoch recht schnell heraus, dass er in den angebotenen Plattformen nicht das fand, was er eigentlich suchte: konstruktiven Austausch mit anderen Betroffenen und sachlich fundierte Informationen.
Resultierend aus den gemachten Erfahrungen beschloss er also bereits im Jahr 2001 die Mailingliste und Selbsthilfegruppe „Lungenemphysem-COPD Deutschland“ (SHG) zu gründen, eine Organisation, die fortan die Basis seines Engagements darstellt und mit den Jahren stetig wächst.
Heute hat die Mailingliste der Organisation mehr als 2200 angemeldete Teilnehmer, die aus Deutschland, den Nachbarländern, Europa aber auch aus Amerika, Asien und der Südsee kommen. In 56 regionalen Gruppen sind zudem über 5700 Teilnehmer organisiert, die sich einmal im Monat vor Ort zum Erfahrungsaustausch treffen. Zusammen mit dem Newsletter, den die Organisation alle 10-14 Tage an die Abonnenten verschickt, erreicht Jens Lingemann mit seiner Initiative mehr als 10 000 Betroffene, Angehörige, Ärzte und Interessierte.
Dabei geht es Jens Lingemann unter anderem um eines der großen Probleme der COPD, nämlich um die – angesichts der weltweit großen Anzahl von Betroffenen – mindestens eben so große Unkenntnis über die erwähnten Lungenkrankheiten in der Öffentlichkeit. Genau wie er selbst, hören die meisten Erkrankten die Begriffe COPD und Lungenemphysem erstmals bei der Diagnose. Und das, obwohl jährlich weltweit Millionen von Menschen an den Folgen der Erkrankungen sterben – in etwa so viele wie an Aids.
Das bringt verschiedene Probleme mit sich. Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Krankheit ist gering, ebenso wie das den COPD-Patienten entgegengebrachte Verständnis im Alltag. Aber auch die Patienten selbst wissen oft zu wenig über ihre Krankheit und tun sie gerne als Raucherhusten ab, bevor die immer öfter auftretende Atemnot sie mit den lebensbedrohlichen Folgen der Erkrankung konfrontiert.
Mit einigem Recht könnte man Jens Lingemann vor diesem Hintergrund als Aufklärer in Sachen COPD bezeichnen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass nur wer möglichst viel über die eigene Krankheit und ihre Therapierung weiß, auch richtig im Alltag mit ihr umgehen kann, arbeitet er seit nun schon fast 10 Jahren an einer besseren Außenkommunikation der COPD. Das Engagement, das er dabei zeigt, ist selbst gemessen am durchschnittlichen Engagement eines „gesunden“ Menschen verblüffend. „Die Krankheit hat meine persönliche Auffassung über das Leben an sich und das Leben mit chronischen Erkrankungen maßgeblich verändert, auch in Bezug auf die Menschen, die mit einer solchen Erkrankung leben müssen und deswegen zwangsläufig gewissen Nachteilen unterliegen.“ so Lingemann.
Symposium Lunge
Um diese Menschen geht es ihm auch in erster Linie bei dem überaus erfolgreichen „Symposium Lunge“, das Lingemann 2007 in Hattingen ins Leben ruft. Seinem Ruf folgen seitdem jährlich nicht nur 1300 bis 1700 Besucher, sondern jedes Jahr auch einige der namhaftesten Lungenfachärzte, die hier unentgeltlich Vorträge über aktuelle Forschungsprojekte und allgemeine Hintergründe der Krankheit halten.
Idee der in dieser Form einzigartigen Veranstaltung ist es, eine möglichst große Menge von COPD- und Lungenemphysem-Patienten zu versammeln und mit den führenden Experten aus Praxis und Forschung zusammenzubringen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Möglichkeiten, sich an Messeständen von Hilfsmittelherstellern, Rehakliniken und Forschungseinrichtungen über den aktuellen Erkenntnisstand zur Krankheit zu informieren und viele kostenlos angebotene Gesundheitschecks durchführen zu lassen.
Alle Aktivitäten der SHG sowie die Organisation des „Symposiums Lunge“ dirigiert Jens Lingemann von seinem Wohnsitz in Hattingen aus. Sein Mitarbeiter-Team umfasst mehr als 120 Personen. Ein langfristiges Ziel ist es, in Deutschland ein flächendeckendes Netz an regionalen Selbsthilfegruppen der Organisation Lungenemphysem-COPD Deutschland zu installieren. Derzeit gibt es 56 solcher Gruppen in ganz Deutschland. „Ein Witz, wenn man bedenkt, dass es schätzungsweise 5 Mio. Betroffene gibt“, so Lingemann.
Der Anschluss an andere Betroffene kann für die Erkrankten sehr wichtig sein, auch weil es im Verlauf der Erkrankung zunehmend schwerer und irgendwann unmöglich wird, mit der eigenen Familie schwimmen oder spazieren zu gehen oder gemeinsame Ausflüge zu unternehmen. Das hat in den meisten Fällen auch zur Folge, dass der gewohnte Bekanntenkreis nach und nach wegbricht. Selbsthilfegruppen tragen in erheblichem Maße dazu bei, dass die Erkrankten auch sozial aufgefangen und vor der drohenden Vereinsamung geschützt werden.
Bei der Umsetzung seiner Ziele kann man Jens Lingemann nur alles Gute wünschen.
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